BAYREUTH – KAPITEL IV

IV. BAYREUTH
NACH DEM TOD RICHARD WAGNERS

1. Das Bayreuth von Cosima,
der Hüterin des Tempels

Nach dem Tod des Komponisten im Jahr 1883 hat das Leitungsteam der Bayreuther Festspiele den Eindruck, sich in einem Reich fortzubewegen, das gerade seinen Herrscher verloren hat. Der Erbauer des Tempels lebt nicht mehr. Zurück bleiben seine Familie, seine Freunde und seine Bewunderer, die möchten, dass das Abenteuer weitergeht. Darüber, wie es weitergehen soll, ist man sich jedoch nicht unbedingt einig. Viele fühlen sich verloren, orientierungs- und führungslos. Wem soll man jetzt folgen?

880284_t1w454h300q75v55936_31-29247091-300x198Nachdem Cosima mit ihrem Sohn Siegfried von Venedig nach Bayreuth zurückgekehrt ist, um die sterblichen Überreste ihres Mannes zu begleiten, zieht sie sich nach der grandiosen Trauerfeier für ihren Gatten über Monate von der Außenwelt in die Villa Wahnfried zurück.

Trotz ihrer wahrscheinlichen Depression gibt Cosima ihre Isolation nach und nach auf, um dem Willen ihres verstorbenen Mannes nachzukommen und für das Jahr 1883 eine neue Ausgabe der Festspiele zu organisieren. Die Proben zum Parsifal finden also statt.

Aus dem Schatten der Logen heraus gibt Cosima Anweisungen und hält sich dabei ganz genau an das, was ihr der Komponist hinterlassen hat, wobei ihre große Verehrung für das Werk ihres Mannes in ihrer ganzen Arbeit deutlich wird.

So findet die zweite Ausgabe der Festspiele völlig im Sinne des verstorbenen Komponisten statt: Ganz nach Richard Wagners Willen werden zwölf Vorstellungen gegeben. Genauso im folgenden Jahr, 1884.

Für Bayreuth beginnt also eine Zelebrierung des Wagnerschen Werks, bei der man sich vollkommen an die Vorgaben des Künstlers hält. Während Hermann Levi (den Wagner trotz der Bedenken Cosimas noch selbst ausgesucht hat) für die künstlerische Leitung der Festspiele verantwortlich ist, obliegt Adolf von Gross, dem Bankier, der sich auch um die Geldangelegenheiten der Familie kümmert, die finanzielle Leitung.

Auch wenn es durchaus legitim erscheinen kann, dass die Witwe des Meisters, welche ihrem Mann immer zur Seite stand, die große Verantwortung auf sich nimmt, die Festspiele fortzuführen, so war diese Legitimität nicht für jedermann gegeben. So trifft Cosima auch auf Widerstände und es kommt sowohl in der Villa Wahnfried als auch im Festspielhaus selbst zu verbalen und literarischen Auseinandersetzungen im Hinblick darauf, wer fortan die Zügel der Festspiele in den Händen halten soll. Ist es wirklich möglich, die Veranwortung für die Fortsetzung des Wagnerkults einer Frau überlassen? Einer Frau, die noch dazu eine Ausländerin ist und deren künstlerische Begabung manche in Zweifel ziehen? Siegfried Wagner erinnert sich in den „Erinnerungen“ an die Widerstände der von ihm als „Superwagnerianer“ betitelten Personen, auf die seine Mutter stieß. In den Augen jener Fanatiker sei seine Mutter nicht deutsch genug gewesen.

Während der auf den Tod von Wagner folgenden Festspielausgaben bringt sich Cosima ganz persönlich bei der Zelebrierung eines fast schon religiösen Wagnerkults ein und beweist so, dass sie die legitime Erbin des Werks ihres verstorbenen Mannes ist. Ihre absolute Treue zum Werk überzeugt schließlich auch unter den Puristen die größten Zweifler, denen eine Fortsetzung des Heiligtums noch wichtiger ist als Cosima selbst.

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Cosima setzt ein Vorhaben um, welches Wagner selbst schon 1865 in einem Brief an Ludwig II. von Bayern, welcher als eine Art Testament gesehen werden kann, erwähnt: „Mein Programm – auszuführen wenn mein theurer König will und hilft. – Mai und Juni 1865., Tristan und Isolde im Residenztheater (…) – Mai und Juni 1866, Tannhäuser und Lohengrin (…) Schauplatz: Residenztheater, oder unter besonders günstigen Umständen im grossen Hoftheater. – Hierzu Tristan wiederholt. August 1867. August 1868. August 1869. August 1870: Ring des Nibelungen. Im neugebauten Festtheater. – Ring des Nibelungen – wiederholt. Kleinerer Festtag: Die Meistersinger. Dazu vielleicht: Tannhäuser u. Lohengrin. Die Sieger. hierzu Die Meistersinger. 1871. Tristan und Isolde. Sieger. Meistersinger. 1872. Parzival. – Mit Wiederholungen. 1873. Ring des Nibelungen. Vorher: Tannhäuser. Lohengrin. Tristan. Nachher: Meistersinger. Sieger. Parzival. Dann – mögen Andre kommen.“

So nehmen die Festspiele, die einzig und allein dem Werk von Richard Wagner bzw. einem Teil davon gewidmet sind, allmählich Form an. Da der Komponist nicht mehr lebt, wird das Werk nicht mehr überarbeitet, sondern bleibt, wie es ist. Wagner kann nicht mehr an seinem Werk feilen, es anpassen oder neue Ideen einarbeiten. Cosimas Wachsamkeit, die darauf abzielt, dass die Opern des Meisters perfekt aufgeführt werden, ersetzt neue Kreationen. Das „Kunstwerk der Zukunft“ wird in seinem Mausoleum nach und nach zu einem Werk der Vergangenheit.

MVRW-TRISTAN-Bayreuth-1886-300x268Im Jahr 1886 jedoch kommt Tristan und Isolde nach den Wünschen des Meisters zum Programm hinzu. 1888 folgen Die Meistersinger von Nürnberg sowie Tannhäuser 1891 und Lohengrin 1894.

1896 kommt es schließlich auch zu einer neuen Produktion des Rings des Nibelungen. Hätte sich das Festspielhaus nicht die Exklusivrechte für die Aufführung des Parsifal vorbehalten, wäre es Cosima nicht am Herzen gelegen, den Werken ihres verstorbenen Mannes zur Ehre zu verhelfen, würden die Bayreuther Festspiele heutzutage sicher nicht einen so besonderen Platz in der Musikwelt einnehmen.

Cosima hat das Sagen und entscheidet über die künftige Richtung der Festspiele. Sie hat auch die künstlerische Leitung inne und übernimmt für jedes einzelne Werk die Regie. Wie Richard Wagner früher auch zeigt sie auf der Bühne, was sie gerne haben möchte. Das Ganze mit mehr oder weniger guter Laune und mehr oder weniger Erfolg. In der Organisation ist der Geist des Meisters noch vorhanden, zu einer künstlerischen Erneuerung kommt es jedoch nicht mehr.

Zu den Vorstellungen des Rings des Nibelungen und auch der Meistersinger von Nürnberg sind die Ränge im Publikum voll, zu Tristan und Isolde füllen sie sich wesentlich weniger… Die Oper kommt noch nicht einmal auf 200 Zuschauer. Parsifal jedoch, die Oper, die nur in Bayreuth aufgeführt werden darf, zählt jedes Mal volle Ränge. Die Exklusivität, welche jegliche Vorstellung außerhalb der Bayreuther Festspiele verbietet und daher für die Festspiele ein außerordentlicher Motor ist, wird erst Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Metropolitan Opera von New York gebrochen. Auch wenn die Theaterleitung in Bayreuth in der Form von Konzerten Teilaufführungen des Parsifal genehmigt hat (so 1884 in London, 1886 in New York und 1894 in Amsterdam), so war es doch nie außerhalb von Bayreuth zur Aufführung des kompletten Werks oder zu einer szenischen Darstellung gekommen.

MVRW-Parsifal-a-NYW-Met-en-1903-300x232Dann der Paukenschlag: Ein Gerichtsurteil erlaubt es amerikanischen Opernhäusern, das letzte Meisterwerk Wagners aufzuführen, so dass die Metropolitan Opera von New York das Werk am 24. Dezember 1903 mit Sängern aufführt, die in Bayreuth dafür ausgebildet wurden. Cosima ist außer sich vor Wut und verbietet, dass Sänger, die in New York aufgetreten sind und somit „Verrat“ begangen haben, erneut nach Bayreuth eingeladen werden können. In Europa dagegen kann das Bayreuther Monopol Parsifal betreffend bis zum 1. Januar 1914 bestehen bleiben. Am 31. Dezember jedoch beginnen in mehreren Theatern Vorstellungen des Parsifal. In Wirklichkeit jedoch kam es auch vorher schon in den Jahren 1905, 1906 und 1908 zu nicht genehmigten Aufführungen in Amsterdam.

Die erste genehmigte Vorstellung findet am Gran Teatre del Liceu in Barcelona statt. Aufgrund der damals existierenden Zeitverschiebung zwischen Barcelona und Bayreuth kann sie am 31. Dezember 1913 um 22.30 Uhr, also eineinhalb Stunden vor dem 1. Januar 1914, beginnen.

2. Das Bayreuth von Siegfried Wagner,
Erbe wider Willen

Am 9. September 1906 erleidet Cosima im Alter von 70 Jahren einen schweren Herzinfarkt, so dass sie sich von der Festspielleitung zurückziehen muss. Alle Blicke richten sich nun auf den einzigen männlichen Nachfahren des Komponisten, welcher aufgrund seiner Abstammung dazu auserwählt ist, die Organisation der Festspiele fortan zu übernehmen: Siegfried Wagner.

Der junge Mann, der auch Fidi genannt wird, ist zu jenem Zeitpunkt 37 Jahre alt. Er gilt als liebenswürdig, umgänglich, aber eher unauffällig, nicht gerade als starke Persönlichkeit, ja sogar schüchtern.

Wagners Erbe hat lange gezögert, im Fahrwasser der Eltern zu bleiben. Nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1883 trägt er sich sogar eine ganze Weile damit, seinem Schicksal durch eine Architektenlaufbahn zu entkommen. Man erblickt jedoch nicht als Sohn Richard Wagners das Licht der Welt, um dann Architekt zu werden! Siegfried fügt sich also in den vorgegebenen Weg und wird Musiker.

humperdinck-218x300So beginnt er zunächst als Orchesterchef und lernt bei Hans Richter, eine Ausbildung, die es ihm erlaubt, schon 1896 für die Wiederaufnahme der Vorstellungen des Rings des Nibelungen die Leitung seines ersten Ringzyklus zu übernehmen.

Während Richter dem Erben das Dirigieren beibringt, lernt er von Engelbert Humperdinck, dem Komponisten von Hänsel und Gretel sowie der Königskinder, die Grundzüge des Komponierens.

Der Einfluss Richters auf das Werk von Siegfried Wagner ist mehr als offensichtlich: Der von Siegfried eingeschlagene Weg ist in der Tat der eines Märchens für Kinder mit Klängen für Erwachsene zu einer postwagnerschen Musik. Siegfried Wagner komponiert zahlreiche Werke, die jedoch nur selten über den Stand der reinen Komposition hinauskommen (Der Bärenhäuter, 1898; Herzog Wildfang, 1900; Der Kobold, 1903).

Cosima wiederum hat ihrem Sohn die Kunst der Inszenierung gelehrt oder besser gesagt, sie hat ihm die einzig mögliche Inszenierung beigebracht, nämlich die ihres verstorbenen und so verehrten Gatten Richard Wagner. Diese verknöcherte Kunst lässt jedoch nur wenig Platz für neue Ideen, die versuchen, sich in Bayreuth die Bahn zu brechen, um den Festspielen einen frischen Wind zu geben. Von den Theorien, die Appia vertritt, wollen wir erst gar nicht reden: Modernität in den Lichtspielen, Purismus in Inszenierung, Kostümen, Bühnenspiel… Für keine der Ideen des jungen Schweizers konnte Cosima sich begeistern. Die fast schon göttliche Aufgabe, die Bayreuther Festspiele fortzusetzen, soll Siegfried fortführen, sich dabei aber ohne Gegenrede den Vorgaben Cosimas beugen, welche sich den Neuerungen, die außerhalb des Bayreuther Festspielhauses aufkommen, völlig verschließt.

Die Tradition wird zum ersten Mal von Gustav Mahler im Jahr 1903 auf der Bühne der Wiener Staatsoper mit Tristan und dann durch den Regisseur und Bühnenbildner Alfred Roller mit den ersten zwei Opern des Rings des Nibelungen erschüttert.

Zwischen 1912 und 1930 kommt es in ganz Deutschland verteilt in nicht weniger als 20 Produktionen die Werke Wagners betreffend zu einem neuen Bühnenkonzept. In Bayreuth jedoch sind Neuerungen undenkbar.

Über Siegfried und sein Tun wacht die den Traditionen die Treue haltende Cosima.

Der vom Glück wenig bedachte Siegfried versucht dennoch gewisse Änderungen durchzusetzen, indem er beispielsweise auf der Bühne und im Zuschauerraum des Festspielhauses eine elektrische Beleuchtung einführt, nach und nach dreidimensionale Inszenierungen einführt und – ganz kühn – bemalte Leinwände ablehnt.

Die Hütte des Hunding und die Verwendung eines wirklichen Schiffes (Fliegender Holländer in der ersten Inszenierung im Jahr 1901) stellen für den Regisseur (und das Publikum) neue Erfahrungen dar, sind aber Cosima gegenüber gleichzeitig ein Affront. Zu innovativ darf Siegfried nicht sein: Will er die Festspiele auch weiterhin leiten, muss er sich den Regeln beugen und die Magie rund um Wagner so weiterführen, wie man es in Bayreuth sieht. Er muss außerdem dafür sorgen, dass sich die Kassen, welche unter dem Ersten Weltkrieg gelitten haben, wieder füllen und er seine Position behält, indem er als Leiter der Wagnerfestspiele erfolgreich ist. Siegfried kann daher an den Inszenierungen seiner Mutter nur wenig Elemente im Bühnenbild – hier einen Felsen und dort eine Hütte – verändern. Mehr ist erst 1927 bei der Aufführung des Tristan sowie 1930 bei der des Tannhäuser möglich, als Siegfried bereits am Ende seiner Karriere angelangt ist und seine Art der Bühnenkunst in völliger Freiheit und mit weniger Zaghaftigkeit als in der Vergangenheit zum Ausdruck kommt.

Mit diesen späten Produktionen kommt plötzlich ein Talent ans Licht, wie man es bisher in Bayreuth kaum gesehen hat. Der 1930 von Toscanini dirigierte Tannhäuser ist ein ausgezeichnetes Beispiel für das, was Siegfried hätte machen wollen, hätte man ihn nur gelassen.

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Was das Festspielteam betrifft, so verändert sich nichts Grundlegendes, es kommt zu keinen personellen Veränderungen.

Som-Siegfried-i-Gotterdämmerung-på-Metropolitan-i-1929-300x231Die Aufführungen und die Sänger, die durch diese einzigartige „Festspiel-Schule“ gehen, sind jedoch erstklassig. Die meisten Sänger der „ersten Stunde“, die noch unter dem Meister gesungen haben, sind inzwischen verstorben.

An ihre Stelle treten Sänger, wie Maria Müller, Friedrich Schorr, Herbert Janssen oder auch Lauritz Melchior, und glänzen auf der Bühne des Festspielhauses. Ein Triumphzug! Was Wagners Kunst in Bayreuth zu bieten hat, sucht ihresgleichen! Der Andrang bei den Festspielen ist groß.

Das Jahr 1930 jedoch bringt gleich zwei Todesfälle mit sich. Am 1. April 1930 stirbt Cosima im Alter von 92 Jahren. Der Tod der alten Dame, die eigentlich nur noch ihr eigener Schatten war, deren Geist die Festspiele aber immer noch mit Festigkeit und Beharrlichkeit lenkte, befreit ihren Sohn Siegfried. Er, der es nie geschafft hat, seiner Mutter ein Nein entgegenzusetzen, kann nun selbst entscheiden.

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Die berühmte Aufführung des Tannhäuser im Jahr 1930 markiert seinen Aufstieg, welcher jedoch leider von allzu kurzer Dauer ist. Siegfried, der Sohn Richard Wagners, erleidet während der Proben einen Herzinfarkt und kann weder seinen Triumph genießen noch seine Arbeit der Erneuerung fortsetzen. Während der triumphalen Premiere des Tannhäuser am 22. Juli, die Bayreuth seinen vergessenen Glanz zurückgibt, liegt Siegfried allein und weit weg vom Festspielhaus im Sterben. Nur vier Monate nach dem Tod seiner Mutter scheidet er am 4. August dahin. Für Bayreuth wiederum beginnt nun eine der dunkelsten Zeiten in der Geschichte der Festspiele…

NC/SB

Link zur Bibliografie mit den Quellenangaben

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