LONDON (Stationen und Inspiration)

DIE DREI LONDONAUFENTHALTE
DES KOMPONISTEN

von Nicolas CRAPANNE

Richard Wagners Aufenthalte in London sind weniger bekannt – und auch weniger desaströs – als seine Pariser Zeit, verlaufen für den Komponisten jedoch trotzdem enttäuschend. Das Ziel seiner Londonreisen war dasselbe wie das seiner Aufenthalte in der französischen Hauptstadt: das Publikum im Ausland für sich zu gewinnen. Hier ein Überblick über die drei Londonreisen von Richard Wagner sowie über seine Versuche, der Idee einer „Zukunftsmusik“ außerhalb der deutschen Grenzen zu Akzeptanz zu verhelfen.

ERSTE REISE (1839)

Bevor Wagner versucht, vom großen Giacomo Meyerbeer eine Empfehlung für die Uraufführung seiner neuen Werke auf einer der Pariser Bühnen zu bekommen, reist der Komponist ein erstes Mal nach London. Als er am 12. August 1839 mit seiner Frau Minna und seinem Hund Robber, einem Neufundländer, zum ersten Mal britischen Boden betritt, ist der Meister auf der großen Insel total unbekannt und flieht vor seinen Gläubigern. Paar und Vierbeiner kommen in einer Familienpension auf der Great Compton Street in Soho unter.

Ziel des Komponisten ist es v. a., in London den berühmten Schriftsteller Edward Bulwer-Lytton (1803 – 1873) zu treffen. Bulwer-Lytton ist der Autor von Rienzi, der Letzte der Tribunen, ein Werk, an dem Wagner mit dem Ziel arbeitet, eine neue Oper zu erschaffen. Kurz nach seiner Ankunft begibt sich Wagner, der weiß, dass Baron Bulwer-Lytton Teil des britischen Unterhauses ist, Richtung Parlament. Der Schriftsteller befindet sich jedoch gerade nicht in der Stadt, so dass ein Treffen zwischen den beiden Männern nicht zustande kommt. Für den wissbegierigen, unerschrockenen Wagner jedoch die Gelegenheit, das Parlament zu besichtigen und einer Sitzung beizuwohnen. Beim Komponisten hinterlassen jedoch weder der damalige Premierminister, Lord Melbourne, noch der berühmte Herzog von Wellington einen besonders positiven bzw. bleibenden Eindruck.

Wagner will auch herausfinden, was eigentlich aus dem Manuskript der Rule Britannia Ouvertüre geworden ist, welche er in seiner Jugendzeit in Dresden komponiert und Sir John Smart, dem Präsidenten der Londoner Philharmoniker, übersandt hat, ohne jemals von diesem gehört zu haben. Vielleicht wäre es ja auch möglich, seinen Aufenthalt dahingehend zu nutzen, das Manuskript zu bekommen? Auch hier tut sich jedoch eine Enttäuschung auf: Sir John Smart wohnt nicht in London.

Was beim Ehepaar bei seiner Abfahrt nach Paris von London übrigblieb bleibt, ist das Gefühl einer unvergesslichen Wüstenei. Der erste Londonaufenthalt von Wagner endet also am 20. August 1839 eher bitter. Wichtig ist nunmehr nur der Erfolg, den sich Richard und Minna in Paris erhoffen.

 

ZWEITE REISE (1855)

martyn4/kunkap/ku7Bis Wagner wieder nach London reist, vergehen etwa 15 Jahre. Auf Einladung der Philharmonic Society bricht der sich in Zürich im Exil befindende Komponist am 26. Februar 1855 wieder nach London auf, um dort eine Konzertreihe zu dirigieren. Bei seiner Ankunft am 2. März zieht Wagner in eine Unterkunft am Regent’s Park in Portland Terrace, die wesentlich komfortabler ist als das Boarding House, in welchem er bei seinem ersten Londonaufenthalt im Jahr 1839 abgestiegen ist. Die von der Philharmonic Society angebotene Gage für die Leitung von acht Konzerten beläuft sich auf 200 Pfund und ist damit beträchtlich. Vom Klima jedoch ist Wagner genervt. Er erhofft sich dagegen sehr viel vom Orchester. Das Repertoire der Old Philharmonic Society, Mitte des 19. Jahrhunderts eines der renommiertesten Orchester Europas, umfasst hauptsächlich Werke von Haendel und Mendelssohn, Komponisten, die damals als die wahren Meister gelten. Wagners Ziel ist es, sich einen Namen zu machen und berühmt zu werden. Von dem Ensemble, das er in Zürich leitete, war er enttäuscht. Was ihn in London anzieht, ist daher weniger das Repertoire als der Ruf der Musiker, unter denen sich keine Amateure, sondern ausschließlich talentierte Quasi-Solisten befinden. So ruft er ihnen bereits bei der ersten Probe zu: „You are the famous Philharmonic Orchestra! Raise yourselves, gentlemen, be artists!“

In einer Umgebung, in denen herausragende Ergebnisse möglich sind, erwartet der Komponist zweifelsohne mehr als nur eine einzige Probe pro Konzert. Geplant ist dies so jedoch nicht. Wagner muss sich mit dem von der Leitung aufrechterlegten ausgehandelten Minimum zufriedengeben.

Wagner selbst ändert sich nicht und vernachlässigt einmal mehr die Termine, die für ihn mit den wichtigsten Kritikern vor Ort vereinbart werden. Selbst James Davison, der damals als Kritiker der Times sehr geschätzt wird und auch als Chefredakteur der überaus einflussreichen Musical World tätig ist, wird von Wagner nicht genügend Beachtung geschenkt. Bis Wagner versteht, dass er die Medien besser auf seine Seite zieht und sich ihrer bedient, muss erst viel Zeit vergehen.

Zwischen dem 12. März und dem 25. Juni dirigiert Wagner acht Konzerte mit Werken von Haendel, Mendelssohn, Mozart, Beethoven, Weber, Spohr und Cherubini. Auch ein paar seiner eigenen Kompositionen (Auszüge aus dem Lohengrin sowie die Ouvertüre des Tannhäuser) sind dabei. (Mehr eigene Werke gesteht man dem Komponisten nicht zu.)

Schon nach dem ersten Konzert stellt sich die Presse geschlossen hinter Davison und konfrontiert den Komponisten mit äußerst negativen Kritiken. Wagner ist davon ausgesprochen enttäuscht und betroffen. Die ehrfürchtigen Bräuche des Orchesters hat er satt (er hasst es z. B., mit Handschuhen dirigieren zu müssen), er ist enttäuscht, dass man ihm die Genehmigung für zusätzliche Proben verweigert,und zieht sich daher – mit seiner verachtenden Art und Weise und seinem bisweilen schwierigen Charakter – in sich selbst zurück und arbeitet jeden Abend – sehr wahrscheinlich umso besessener – an der Komposition seiner eigenen Werke. Am 3. April 1855 gelingt es ihm, trotz der einheitlich negativen Presse, die seinen Erfolg verhindern will, das Originalmanuskript zur Partitur des ersten Akts der Walküre zu beenden. Nach und nach schafft er es, das Publikum für sich zu gewinnen. Sein fünftes Konzert ist sogar ein großer Erfolg: Die Zuschauer erheben sich voller Hochachtung und winken – wie es der Brauch will – mit ihren Taschentüchern.

MVRW Reine VictoriaDem siebten Konzert am 11. Juni 1855 wohnt sogar Queen Victoria persönlich bei. Dieses Konzert wird zu einem regelrechten Event. Die Königin, welcher der Erfolg der Ouvertüre zu Tannhäuser zu Ohren gekommen ist, bittet darum, dass diese während des siebten Konzerts ebenfalls gegeben wird, obgleich dies eigentlich nicht vorgesehen ist. Am Ende des Konzerts legt Queen Victoria Wert darauf, den Komponisten zu sehen und beglückwünscht ihn zu seinem Werk. Trotz der beharrlichen Versuche der Presse, den Erfolg des Komponisten und Orchesterchefs zu verhindern, endet das letzte Konzert am 25. Juni mit einer langen Ovation und einem Abschiedsbankett.

Vom Empfang, der ihm in London während seines Aufenthalts geboten wird, ist Wagner insgesamt enttäuscht, jedoch kehrt er mit einem gewissen Gefühl an Zufriedenheit in die Schweiz zurück, hat er doch das Herz der Queen gewonnen.

Aufgrund seiner Tendenz zu vorschnellen Schlüssen ist Wagner davon überzeugt, dass das Konzept der „Zukunftsmusik“ Franzosen und Engländern zutiefst fremd bleiben würde. Beide Völker hängen seiner Meinung nach zu sehr an ihren Gewohnheiten und haben Erneuerungen gegenüber derartige Vorbehalte, dass es verlorene Zeit sei, ein Volk von sich überzeugen zu wollen, dessen Ansichten sich zu sehr nach denen der Presse richteten.

 

DRITTE UND LETZTE REISE (1877)

Ein drittes Mal nach London reist Wagner erst, als er für die Finanzierung seiner ersten Bayreuther Festspiele Geld benötigt. Zwischen dem 7. und dem 29. Mai 1877 dirigiert er gemeinsam mit dem Orchesterchef Hans Richter in der Londoner Albert Hall eine achtteilige Konzertreihe. Auf dem Programm dieser Reihe stehen u. a. Auszüge aus dem Fliegenden Holländer und der Walküre.

Im Laufe dieses Aufenthalts werden der Komponist und seine neue Ehefrau Cosima von Queen Victoria in Schloss Windsor empfangen. Am Abend trägt Wagner einem kleinen Kreis von Freunden den Parsifal vor.

Von diesem letzten Aufenthalt in der britischen Hauptstadt kehrt Wagner mit 700 Pfund, also einem Zehntel seines Bayreuther Defizits, zurück.

Die Beziehung, die Richard Wagner zu England unterhielt, resümiert sich nicht nur in der Bewunderung, die die Queen dem Werk des Komponisten entgegenbrachte, sondern vielmehr in der Person der Königin selbst. In einer sensiblen Persönlichkeit, die für Erneuerungen offen war – ja, diese liebte -, die ihr Land mit einer stark kodifizierten Gesellschaft jedoch mit einer eisernen Hand regieren und die sich gezwungenermaßen einem Zeremonial, Traditionen und Vorurteilen unterwerfen musste. In einem anderen Kontext wäre zwischen der Königin und dem Komponisten sicher eine sehr starke intellektuelle Verbindung möglich gewesen. Queen Victoria hätte in diesem Fall den Erfolg eines ihrer Lieblingskomponisten ganz sicher fördern können. Dafür hätte Letzterer sich jedoch etwas mehr an die Etikette halten und Traditionen respektieren müssen. Wir wissen jedoch nur allzu gut, dass ein derartiges Verhalten einem Richard Wagner völlig fremd war…

MVRW-Chateau-de-Windsor

NC.

 

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