BAYREUTH – KAPITEL VII

Icono-7-Section-4VII. WOLFGANG WAGNERS
WERKSTATT BAYREUTH

Nach dem frühen Tod seines Bruders Wieland im Jahr 1966 ist Wolfgang allein für die Festspiele, welche mittlerweile wieder zu dem Ruhm gefunden haben, der ihnen auch vor dem Krieg schon gebührte, verantwortlich.

Der Jüngere der beiden Brüder, welcher im Schatten des Älteren aufgewachsen ist, welcher die Festspiele fast ganz an sich gezogen hatte, hat erst einmal Schwierigkeiten, sich als künstlerischer Direktor und Leiter der Verwaltung durchzusetzen. Was für eine Aufgabe und Bürde, einem solchen Bruder zu folgen! Wie soll er das Talent vergessen machen, mit dem Wieland sich auf der Bühne des Neuen Bayreuth durchgesetzt hat?

Wielands Ring aus dem Jahre 1951, sein Tristan von 1952, sein Lohengrin von 1958 und seine Meistersinger haben dem Neuen Bayreuth zu einer neuen Ästhetik verholfen und gelten mittlerweile in Bezug auf Modernität als unumgänglich und unübertreffbar. Nachahmen war jedoch durchaus drin… Und genau das wurde dem schüchternen Bruder von Wieland vorgeworfen: Er sei mit seiner Art von Inszenierungen nicht innovativ, sondern folge lediglich seinem Bruder.

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Dennoch kann man sagen, dass Wolfgang versuchte, den Weg, den Wieland Wagner in Bezug auf Modernität ging, weiterzugehen und dabei neue Elemente, insbesondere Farben, beizutragen, wo Wieland lediglich mit Schatten, Schwarz-Weiß-Effekten und Halbtönen arbeitete. Die Aufführung des Tristan im Jahr 1957 und die des Rings im Jahr 1960 schafften es schließlich, das Publikum zu überzeugen, nachdem dieses die Jahre zuvor vom Wagemut des älteren Bruders geschockt war.

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Obwohl Wolfgang bereits im Amt war, war es nicht selbstverständlich, dass er allein die Nachfolge von Wieland antreten konnte.

Wie es in der Familie Wagner bereits seit fast einem Jahrhundert üblich war, verursacht das Ableben von Wieland jede Menge Querelen und Streitereien. Da das „Neue Bayreuth“ 1949 den Brüdern gemeinsam die Leitung übertragen hat, hätte man annehmen können, dass die Nachfolge Wielands geklärt war und der überlebende Bruder nunmehr diese Aufgabe allein übernehmen würde.

MVRW-WOLFGANG-WAGNER-avec-GERTRUD-ET-NIKE-660x499Die Mitglieder der Familie Wagner sahen dies jedoch nicht alle so. Gertrud, die Witwe von Wieland, eine ehemalige Tänzerin, hatte diesen v. a. bei den Choreografien zu Tannhäuser und Parsifal unterstützt und sah sich damit legitimiert, von nun an in der Leitung der Festspiele mitzuwirken.

Einige Produktionen ihres verstorbenen Gatten ließ sie im Übrigen auch auf ein paar europäischen Bühnen wiederaufleben, insbesondere an der Stuttgarter Oper, eine seiner „Bastionen“. Den erhofften Erfolg hatte die Wagnerwitwe damit jedoch nicht.

Friedelind, Wielands Schwester, welche nach dem Krieg übergangen worden war, hoffte ihrerseits, dass ihre Stunde nun gekommen sei und stellte sich als eine legitime Nachfolgerin ihres Bruders dar. Erste Erfahrungen im Inszenieren hatte sie mit Bayreuther Studenten während einer Produktion des Lohengrin gesammelt. Das Projekt wurde jedoch eine Totgeburt und schaffte es – vermutlich, weil es an der nötigen Professionalität fehlte – nicht auf die Bühne des Festspielhauses.

MVRW-ANJA-SILJA-et-WIELAND-WAGNER-300x293Anja Silja, die göttliche Freia, scheue Senta und keusche Elisabeth, mit der Wieland zuletzt eine Beziehung hat, schafft es allerdings, den Hass der gesamten Familie auf sich zu ziehen. Man gibt ihr zu verstehen, dass sie von nun an eine „persona non grata“, also unerwünscht, sei.

Anja Silja findet sich damit ab und verlässt Bayreuth (ab 1967 hat sie dort keine Rolle mehr), um einen Skandal zu vermeiden. Stattdessen genießt sie anderswo den Erfolg, den sie bekanntlich beim Publikum hatte.

Winifred wiederum mochte die Arbeit ihres eigenen Sohnes nie, hatte sie doch 1951 am Tag nach der Aufführung des Parsifal im Neuen Bayreuth gerufen: „Und DAS ? Von einem Enkel Richard Wagners!“ Sie hatte folglich große Mühe, zu verbergen, wie es ihr mit der Entwicklung der Festspiele ging.

Aus künstlerischer Sicht ist der Tod von Wieland ein großer Schock für die Geschichte der Festspiele. Wolfgang Wagner folgt den Anweisungen und ästhetischen Vorstellungen seines Bruders zu sehr, als dass er es schaffen kann, das Genre zu erneuern. Die unmittelbar auf das Ableben Wielands folgenden Jahre lassen die Festspiele damit zum zweiten Mal zu einer Art Mausoleum werden. Mit einer geradezu blinden Treue wird versucht, das Werk des leider Verblichenen fortzusetzen und aufrechtzuerhalten.

MVRW-TRISTAN-ISOLDE-NILSSON-WINDGASSEN-1967Sein letzter Parsifal wird damit 1973, sein letzter Ring 1969 und sein letzter Tristan 1970 aufgeführt. Entweder mit denselben Sängern (Nilsson und Windgassen stehen jedes Jahr bereit) oder mit neuen, die Mühe haben, jenen Sängern eines sich zu Ende neigenden goldenen Zeitalters das Wasser zu reichen.

Es wiederholt sich folglich, was schon nach dem Tod Richard Wagners eingetreten ist: Indem man versucht, ehemals innovative Theaterkunst weiterleben zu lassen, trägt man zu ihrer Mumifizierung bei. Wieder einmal hat man sich sehr weit vom berühmten letzten Willen Richard Wagners entfernt, der seinen Nachkommen in seinem Testament „Kinder, macht Neues!“ hinterlassen hatte.

Wolfgang Wagner ist sich dieser Krise und dieses Verfalls durchaus bewusst und muss reagieren, wenn er das Boot, an dessen Steuer er sich befindet, nicht untergehen sehen will. Wie aber kann er reagieren? Seine Idee ist, „frisches Blut“ nach Bayreuth zu holen und die Inszenierungen der Opern seines Großvaters (was für ein Sakrileg!) neuen Personen anzuvertrauen, die nicht zur Familie gehören. Ein Konzept, das er in der „Werkstatt Bayreuth“ verteidigen wird.

 

1. Wolfgang Wagners „Werkstatt Bayreuth“

Die Devise von Bayreuth lautet nunmehr: Sich neuen Ideen, neuen Konzepten, neuen Blickwinkeln öffnen.

Junge Regisseure, die sich im Theater- und Opernbereich großer Beliebtheit erfreuen, werden nach Bayreuth eingeladen, um ihre Sichtweise des Wagnerschen Werks auf den Grünen Hügel zu bringen. Eine Tradition, die auch heute noch aufrechterhalten wird und bei der sich die Produktionen von eingeladenen Regisseuren mit denen von anderen, wie Wolfgang und Katharina Wagner, mischen.

Sieht man von der Aufführung der Meistersinger von Rudolf Hartmann anlässlich der Wiedereröffnung des Neuen Bayreuth im Jahr 1951 ab, welche überaus klassisch und qualitativ hochwertig war, dann war August Everding, der recht brave „Bildermacher“, der erste Nichtangehörige des Wagnerclans, der dazu auserkoren wurde, mit zwei Produktionen seine Ideen auf die Bühne des Festspielhauses zu bringen: 1969 mit dem Fliegenden Holländer und 1974 mit Tristan und Isolde, Inszenierungen, die recht neutral gehalten sind und in der Geschichte der Bayreuther Festspiele weder zu einem Skandal noch zu einem glorreichen Triumph führen.

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Den ersten Skandal erzeugt der 1972 von Götz Friedrich inszenierte Tannhäuser.

14185402626521-1Eine Produktion, die ganz klar für Innovation steht. So zeigt der Regisseur einen Tannhäuser, der zum Opfer einer intoleranten Gesellschaft wird.

Die Szenen des zweiten Akts auf der Wartburg zeigen eine gleichgeschaltete, bis ins Extreme kodifizierte Gesellschaft und klingen wie eine direkte Verurteilung der Ästhetik und der Brutalität des Dritten Reichs.

INSZ_Tannhäuser-Bayreuth-1978_A1-170x170-1Dabei stellt der Regisseur die „Wächter über das Wagnersche Werk“ vor eine große Herausforderung…

In dieser qualitativ sehr hochwertigen Produktion stechen insbesondere Sänger, wie Gwyneth Jones (die Venus UND Elisabeth verkörpert), Spas Wenkoff und Bernd Weikl, hervor.

Das Publikum stört sie so sehr, dass das Finale nach der zweiten Vorstellung umgearbeitet werden muss.

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2. Das Credo der Modernität

Modernität, Zeitlosigkeit, ja Universalität der Handlung werden nunmehr auf dem „Grünen Hügel“ zum heiligen Credo.

Der größte Skandal dieser neuen Ära, die für Veränderungen so günstig ist, ist der berühmte Ring von ChéreauBoulez, der 1976 zum 100. Bestehen der Festspiele zur Aufführung kommt. Die angekündigte, geniale Feier zum hundertjährigen Bestehen der Festspiele endet in der Tat im totalen Chaos. Nach einem Eröffnungsabend mit einer Szene auf der Festwiese (Meistersinger, Dirigent: Karl Böhm, Regisseur: Wolfgang Wagner) in einem „Klassizismus“, der an die naive Malerei erinnert, öffnet sich der Vorhang für eine Aufführung, die den einen als eine der interessantesten des Jahrhunderts und der immer noch vorhandenen Wagnerschen „Nachhut“ als eine der unmöglichsten erschien.

Von keltischen Helmen, Bechern voller Met, Hütten und Tierfellen ist nichts mehr zu sehen. Auch die Abstraktion, die Wieland Wagner vorgenommen hat, ist nunmehr vorbei. Bühnenbilder und Kostüme werden aus dem 19. Jahrhundert entliehen.

Hat der Tannhäuser von Friedrich 1972 der Zeitlosigkeit der Mythen in Wagners Werk Tür und Tor geöffnet, so öffnen sich die Festspiele 1976 einer Neubetrachtung zu Aufkommen (und Verfall) der großen westlichen Zivilisationen der Zeit. Was ist universeller als der Mythos von gestohlenem Gold, Gold, das von einem bösen Geist, der das edelste der Gefühle, nämlich die Liebe, verachtet, entwendet wurde?

Jeder Skandal in Bayreuth wird jedoch – wie meist, wenn es sich um das Wagnersche Werk handelt – schnell zu einem Triumph. Als nach fünf aufeinanderfolgenden Jahren, in denen der Jahrhundertring gehasst und verflucht worden war, der Vorhang zur letzten Vorstellung der Götterdämmerung fällt, gilt die Produktion mit einem eineinhalb Stunden andauernden Applaus und der wiederholten Bitte nach Zugaben bereits als eine der besten der Festspiele.

545x307TristanPonnelleTree-300x169Nach diesen ersten Skandalen, die sich schließlich alle zu einem Triumphzug entwickeln, setzt Wolfgang Wagner seine Ideen bezüglich „frischen Blutes“ fort.

Ein voller Erfolg mit dem psychoanalytischen Fliegenden Holländer von Harry Kupfer (1978), dem exstatischen Tristan von Jean-Pierre Ponnelle (1982), dem romantischen Lohengrin von Werner Herzog (1987) und auch – direkt aus der postindustriellen Ära – mit dem Ring des Nibelungen von Kupfer (1988).

Zu Misserfolgen (das ist das Risiko!) kommt es mit dem glanzlosen und sich nicht abhebenden Parsifal von Götz Friedrich (1982) und den Aufführungen des Rings, die auf den von Chéreau folgen, jedoch auch.

Der von Peter Hall (1983) ist unfreiwillig naturalistisch, während sich die darauffolgenden sich bei der Suche nach einer Sprache oder einer Leitidee verirren. So die Aufführungen von Alfred Kirchner (1994) und auch die von Tankred Dorst (2006).

Wolfgang Wagner wiederum ist nicht von seinem Weg abzubringen und entwickelt sein Theaterkonzept weiter. Dabei profitiert er von dem, was er von seinem Bruder gelernt hat. 1981 inszeniert er Die Meistersinger von Nürnberg, 1989 Parsifal, beides „Klassiker“. Mehr als 30 Jahre waren nötig gewesen, bis die damals innovative und provokative Kunst von Wieland, welche später erstarrte und als nicht mehr veränderbar galt, als überholt angesehen wurde.

Unknown-21-1Was die Sänger betrifft, so mangelt es von nun an an großen Sängern (Nilsson, Windgassen, Rysanek und King leben nicht mehr), so dass man sich auf dem Hügel dazu gezwungen sieht, neue Stimmen zu finden oder zu „erzeugen“.

So werden die Bühnenanfänge von Waltraud Meier (die unglaubliche Isolde an der Seite des Tristan von Siegfried Jerusalem, eine Rolle, die sie auf dem Grünen Hügel sechs Jahre lang unter Heiner Müller singt), Deborah Polaski, Paul Elming, Siegfried Jerusalem, Manfred Jung und Violeta Urmana als eine Renaissance der Kunst Richard Wagners gefeiert.

2anneevanstomli21.1263943533.thumbnail-300x169Am 1. September 2008 übergibt Wolfgang Wagner, der zwei Jahre später – nämlich am 21. März 2010 – in Bayreuth stirbt, die Festspiele in die Hände von Katharina, seiner Tochter, sowie seiner Halbschwester Eva Wagner-Pasquier. Wolfgang Wagner, den die Streitereien um die Nachfolge seines Bruders sehr geprägt hatten und der daraufhin mit seinem Sohn, seiner Tochter, seiner Nichte… zerstritten war, hatte mit seiner Übernahme der Festspielleitung die rechtlichen Befugnisse an Festspielen und Gebäuden (Festspielhaus und Villa Wahnfried) an die Richard-Wagner-Stiftung übergeben, deren Stiftungsrat aus Mitgliedern der Familie Wagner sowie aus Vertretern von Bund, Land, Bezirk, Stadt, Bayerischer Landesstiftung sowie der Gesellschaft der Freunde von Bayreuth besteht.

Auch die Nachfolge Wolfgang Wagners konnte so leichter geregelt werden.

NC/SB

Link zur Bibliografie mit den Quellenangaben

BANDEAU WERKSTATT BAYREUTH DE

TANNHÄUSER (1972/1978)
DAS RHEINGOLD (1976)
FLIEGENDE HOLLÄNDER (1976)
TRISTAN UND ISOLDE (1982)
LOHENGRIN (1987)
TRISTAN UND ISOLDE (1993)

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