ZÜRICH (Stationen und Inspiration)

MVRW Cadre ZURICH Section VIZÜRICH

Die Schweizer Banken- und Handelsstadt Zürich ist im 19. Jahrhundert für ihr kulturelles Leben kaum bekannt. Für die Karriere Richard Wagners und das Entstehen seines Rufs spielt sie trotzdem eine große Rolle. Der Komponist entscheidet sich keineswegs freiwillig für Zürich als Wohnort. Vielmehr wird er aus dem Deutschen Bund verbannt, weil er sich 1849 mehr oder weniger aktiv an den Aufständen in Dresden beteiligt hat. In seinem Züricher Exil kommt Wagner mit falschen Papieren an und reist dort einige Jahre später fast genauso schnell wieder ab. Obwohl er dort mittlerweile zu einem gewissen Ruf gekommen ist, fordert ihn sein Mäzen Otto Wesendonck dazu auf, sein Anwesen möglichst sofort zu verlassen.

mvrw-wagner-vers-1850In Zürich und Umgebung verbringt Wagner neun Jahre und gelangt dort nach und nach zu einem gewissen Bekanntheitsgrad als Orchesterchef sowie danach auch als Musik- und Kunsttheoretiker und als ein Mensch, der die Gesellschaft genau analysiert. Schließlich gelingt es ihm auch, in Zürich als Komponist zu einem gewissen Ruf zu kommen, obwohl er in der Schweizer Stadt keine der Opern schafft, für die er heutzutage bekannt ist.

Die in Zürich verbrachten Jahre erscheinen im Leben des Komponisten eine ganz eigene Zeit zu sein, eine Zeit, in der er viel über sich und sein Werk nachdenkt und lernt. In Zürich wendet sich Wagner ganz dem künstlerischen Schöpfungsprozess zu. Er fragt sich ständig, wie es ihm gelingen kann, sein Werk zu entwickeln und voranzubringen. In seinen Jahren in Zürich kommt es für Wagner – sowohl privat als auch beruflich – zu entscheidenden Begegnungen. In Zürich wird er als Künstler der Zukunft anerkannt. Er kommt in der Schweizer Stadt als ein Mann an, der des Landes verbannt wurde, und verlässt sie als ein Verräter, der mit der Frau seines besten Freundes eine Liebesbeziehung angefangen hat, aber auch als der Komponist der sog. „Zukunftsmusik“, die manche verspotten, während andere sie feiern oder ihr misstrauen. Während dieses von ihm nicht geplanten Aufenthalts in der Schweiz erfindet sich Wagner, stellt sich Wagner als Künstler in Frage. Ohne zu übertreiben kann man behaupten, dass Richard Wagner, der zukünftige Meister von Bayreuth, der Verfechter des Gesamtkunstwerks, in Zürich das Licht der Welt erblickt.

 

Die ersten Jahre: Ein Zögern und ein Zaudern, ein Hin und Her und viel Romantik

MVRW-Mandat-d-arret-WAGNER-184928. Mai 1949: Wagner kommt im Alter von 36 Jahren als in Deutschland Geächteter und zur Verhaftung Ausgeschriebener in der Schweiz an. Aufgrund seiner Beteiligung an den Dresdener Aufständen liegt gegen ihn ein internationaler Haftbefehl vor, weswegen er auf der Suche nach falschen Papieren ist. Manche seiner Freunde haben weniger Glück, werden verhaftet und müssen befürchten, vor ein Erschießungskommando gestellt zu werden. So Carl August Röckel, welcher keine Zeit zu fliehen hat und zwölf lange Jahre im Gefängnis verbringt. Nach Zürich gelangt Wagner ganz zufällig. Die Stadt, die es ihm erlauben wird, vorläufig die Identität zu wechseln, sich frei zu bewegen und ohne die Furcht leben zu müssen, an die Behörden ausgeliefert zu werden, hat er sich nicht bewusst ausgesucht. Im Leben unseres begeisterten Komponisten, der sowohl für künstlerische als auch für politische und gesellschaftliche Ideale kämpft, ist Zürich nur eine vorübergehende Station, im besten Fall eine sichere Stadt, in welcher sich aufgrund ihrer Offenheit und ihrer Bedeutung für den Handel viele Geächtete, Exilanten und Ausgestoßene aufhalten.

Was das kulturelle Leben betrifft, kann man Zürich zu jener Zeit weder mit Paris noch mit Dresden vergleichen. In Zürich treffen – aufgrund des Handels oder der Notwendigkeit eines Exils – Menschen mit den verschiedensten Nationalitäten aufeinander und begegnen sich voller Respekt. Sogar Minderheiten ist es in Zürich möglich, ein völlig freies Leben zu führen, ohne Repressalien oder Zensur befürchten zu müssen. Die Schweizer Stadt ist ein idealer Rückzugsort für freidenkende Menschen, Aktivisten und Personen, die ihre Heimat verlassen mussten, weil sie dort gesucht werden.

Wagner reicht dies jedoch nicht. Sobald er neue Papiere und somit eine neue Identität hat, reist er nach Paris, der einzigen Stadt, die aus seiner Sicht kulturell von Bedeutung ist. Und dies obwohl er dort bereits einen ersten Aufenthalt hinter sich hat, welcher in den Jahren 1839 bis 1842 nicht gerade von Erfolg gekrönt war. Dennoch ist Wagner dieses Mal fest entschlossen, in Paris erfolgreich zu sein. Wie aber kann er sich dort eine Karriere aufbauen und zu einem Namen kommen, ohne dabei zu riskieren, an irgendeiner Straßenecke verhaftet zu werden? Wagner dürstet es nach Anerkennung, die er sich in Paris verspricht. Am 2. Juni stellt sich Wagner mit seinem Rienzi, seinem Fliegenden Holländer und seinem Tannhäuser, welche alle drei in Dresden sehr erfolgreich waren, bei Musikverleger Schlesinger vor. Diesem ist jedoch durchaus bewusst, worin Wagner in Dresden verwickelt war. Als Wagner sein Geschäft betritt, fragt er ihn sogleich, ob er Barrikadenpartituren machen wolle, und bereitet somit Wagners Ansinnen, seine Werke in Frankreich herauszugeben, ein Ende. Der zweite Parisaufenthalt unseres Komponisten gestaltet sich daher mit einer Dauer von nur einem Monat noch kürzer als der erste, lässt er doch erst gar keinen Zweifel über einen möglichen Erfolg bzw. Misserfolg zu. Nach Wagners Besuch bei Schlesinger wird die französische Hauptstadt ferner von einer Choleraepidemie heimgesucht, so dass sich die Hoffnungen des Komponisten definitiv erledigen. Sein treuer Freund Liszt, welcher von der Hartnäckigkeit Wagners beeindruckt ist, unterstützt ihn schließlich finanziell, damit er sich wieder nach Zürich, die in seiner Situation beste Stadt, in Sicherheit begeben kann. Am 6. Juli kehrt Wagner also mit einer gewissen Bitterkeit und dem unangenehmen Gefühl, sich wieder in eine kulturelle Wüste zu begeben, nach Zürich zurück. Etwas Resignation und Einsicht waren aber sicher auch dabei. Minna jedoch behagt diese Rückkehr gar nicht. Obwohl sie selbst noch in Dresden ist, wirft sie Wagner vor, sich für Zürich entschieden zu haben, eine Stadt, die für sie weit davon entfernt ist, Synonym für Erfolg sowie gesicherte finanzielle Verhältnisse zu sein. Im Eheleben der beiden kommt es zu ersten Unstimmigkeiten.

Da Wagner der Ansicht ist, dass seine Popularität als Komponist nicht über die Grenzen des sächsischen Königsreichs hinausreicht, hat er außerdem absolut keine Lust darauf, sich mit den kulturellen Akteuren der Stadt, welche sowieso keine Form von öffentlicher Kultur besitze, abzugeben. Der Fliegende Holländer und auch Tannhäuser wurden in der Tat bisher nur in Dresden und Leipzig aufgeführt. Wagner zieht sich daher in sich selbst zurück und beginnt über den Stellenwert nachzudenken, den Kunst seiner Meinung nach in einer Gesellschaft haben sollte. (Natürlich macht er sich gleichzeitig auch Gedanken darüber, welche Rolle er, Wagner, dabei spielen könnte…)

MVRW Kunst und RevolutionEnde Juli 1849 verfasst Wagner in einer erbärmlichen Unterkunft in der Nähe von Zürich seine Schrift Die Kunst und die Revolution, ein regelrechtes Plädoyer für die absolute Notwendigkeit einer neuen, revolutionären Form des künstlerischen Ausdrucks, welcher mit den Umwälzungen, die die Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts kennt, in Einklang steht.

Gemeinsam mit Minna, welche mittlerweile zu ihm nach Zürich gekommen ist und die er etwas später in seiner Autobiografie Mein Leben als „sehr alte Frau“ bezeichnet, sowie Minnas Tochter Nathalie und jeder Menge Tieren lässt Wagner sich dann in einer besseren Unterkunft im Zeltweg nieder. Als begeisterter Leser Feuerbachs beginnt Wagner dort eine weitere grundlegende Schrift, Das Kunstwerk der Zukunft. Er beendet sie am 4. November 1849.

Minna wiederum klagt unablässig über ihr Exilleben in einer Stadt, die sie nicht kennt und in der sie an der Seite ihres Ehemanns, eines unbekannten Künstlers, ein eher karges Leben fristet. Die Einladung Liszts an Wagner, noch einmal nach Paris zu kommen, stellt für Minna ein Highlight in ihrer kümmerlichen Existenz dar. (Hätte sie jedoch geahnt, welches Unheil diese erneute Reise für ihre Ehe heraufbeschwören würde, wäre sie vermutlich weniger begeistert gewesen…)

MVRW LAUSSOT JessieRichard, der sehr viele neue Opernprojekte hat, welche mit seinen neuesten Überlegungen zu Kunst in Einklang stehen, zögert etwas, lässt sich aber schließlich überzeugen. In Paris sieht er sich jedoch wieder einmal der Langeweile ausgesetzt. Ja, er beginnt die Hauptstadt der schönen Künste, in der sein berühmter Feind Meyerbeer als großer Künstler gefeiert wird, sogar zu hassen. Ohne Meyerbeer geht in Paris in der Musik nämlich nichts. Wagner stellt seine neuen Vorhaben (darunter Wieland der Schmied, für den er Liszt und Berlioz sogar eine Zusammenarbeit anbietet) als ein zunehmend menschenfeindlicher, frustrierter Zeitgenosse vor, der müde ist, eine Absage nach der anderen einstecken zu müssen. Plötzlich passiert jedoch etwas Überraschendes: Das Ehepaar Laussot, lädt Wagner nach Bordeaux ein, wo er sich in die junge Frau verliebt, die in ihrer Ehe unglücklich ist und bei der Musik ihres Gastes regelrecht aufblüht. Da Wagner seinerseits nicht mehr wirklich viel zu verlieren hat, schmiedet er mit seiner neuesten Eroberung die leidenschaftlichsten und romantischsten Pläne. Sein Traum ist es, alles hinter sich zu lassen und sich in die Ferne zu begeben. Warum z. B. nicht auf die griechischen Inseln? Sowohl Ehemann Laussot als auch die in Zürich zurückgebliebene Minna setzen alles daran, um diese Liebesbeziehung zu beenden (s. Die Affäre Jessie Laussot). Minna reist schließlich bis nach Frankreich, um ihren Mann zurückzugewinnen, und kann ihn dazu überreden, von seinen Plänen abzulassen und mit ihr nach Zürich zurückzukommen. Am 3. Juli 1850 kehrt das Ehepaar Wagner gemeinsam nach Zürich zurück, obwohl es seine Trennung eigentlich schon offiziell gemacht hat.

Nachdem sich sowohl der Traum, in Paris zu Ruhm zu kommen, als auch sein Vorhaben, irgendwo anders in der Welt seine Romanze zu leben, erledigt haben, denkt Wagner endlich darüber nach, was Zürich eigentlich für sein berufliches Vorankommen bedeuten könnte.

 

Die ersten Zeichen von Anerkennung in Zürich

mvrw-judaisme-dans-la-musiqueAugust 1850: Wagner ist keineswegs am Boden zerstört oder bereit aufzugeben. Vielmehr treibt ihn eine ganz neue Energie an. Gleich nach seiner Rückkehr im August 1850 entwirft er die beiden ersten Szenen von Siegfrieds Tod. Seinem Konkurrenten Meyerbeer gegenüber empfindet er mehr Hass als je zuvor und verfasst Das Judenthum in der Musik, eine ungehobelte Schrift, die in der Neuen Zeitschrift für Musik unter dem Pseudonym „K. Freigedank“ erscheint. Ein armseliger Rachefeldzug gegen Meyerbeer, weil dieser in Paris regelrechte Triumphe feiert, während Wagner noch nicht einmal als hoffnungsvoller Künstler gilt.

In Weimar dirigiert Liszt am 28. August mit sehr großem Erfolg die Uraufführung des Lohengrin. Dessen Autor und Komponist kann aufgrund seines Landesverweises jedoch nicht anwesend sein.

MVRW AktientheaterZwischen zwei Reisen hat Wagner inzwischen ein paar wenige Konzerte dirigiert. Zu Beginn der Spielzeit im Herbst wird er mit der Leitung des Orchesters am Theater der Stadt Zürich betraut. Die Spielzeit beginnt mit dem Freischütz, welcher vom begeisterten Publikum gefeiert wird. Vielleicht ist Zürich musikalisch gesehen ja doch kein so schlechtes Pflaster?

Trotz dieses Erfolgs lebt Wagner mit einer ihm immer fremder werdenden Minna nach wie vor in einer sehr bescheidenen Unterkunft und verfasst dort voller Enthusiasmus das Werk, das später im Hinblick auf seine Überlegungen zur Oper als die Referenz gilt: seinen Essai Oper und Drama, den er im Januar 1851 beendet.

Oper und Drama Miniature 1Dem Komponisten ist die Essenz dessen, was Kunst sein muss und wie Oper und Drama sich ausdrücken müssen, nun ganz klar. Alles, was seiner Feder von nun an entspringt, wird sich danach richten. Das Jahr 1851 ist komplett dem Ring des Nibelungen gewidmet. Das Werk ist zunächst als Oper in zwei Teilen (Der junge Siegfried und Siegfrieds Tod) geplant. Das kolossale Werk entwickelt sich schließlich jedoch zu einem aus vier Teilen bestehenden Ring, welcher 25 Jahre später im Festspielhaus von Bayreuth uraufgeführt wird. Ein Werk, das angesichts des Epos, das den Meister inspiriert hat, nämlich das mittelalterliche Nibelungenlied, ganz bewusst imposant und sehr lang sein soll (insgesamt 16 Stunden). Ganz in Übereinstimmung mit seinen theoretischen Schriften hat die Oper – im Gegensatz zu anderen Libretti der Zeit, die sich ihre Inspiration teilweise aus zweitklassigen Theaterstücken holen – auch die Funktion, das Publikum zu bilden. Im Fall des Rings heißt das ganz konkret: den Deutschen in der Mitte eines 19. Jahrhunderts, einer Zeit, in der Völkern ihre Herkunft und ihre Identität wichtig sind, ihre nordische bzw. germanische Abstammung vor Augen zu halten.

Während sich Wagner in seinem tiefen Inneren mit diesem monumentalen Werk beschäftigt, dirigiert er immer öfter am Theater der Stadt Zürich. Natürlich die Opern von anderen (Mozart, Weber, Boieldieu, Bellini, Glück). Das Publikum ist jedes Mal begeistert und auch die Musiker sind zufrieden. Wagner sorgt als Dirigent für einen neuen – fast revolutionären – Wind. („Wagner oblige!“) Die ersten Konzerte, für die man ihm die Orchesterleitung Anfang 1852 anvertraut, widmen sich ausschließlich Beethoven. Von Beethoven hat Wagner alles gelernt, Beethoven ist sein geistiger Vater. Der feste Wille von Wagner ist es daher, dem Werk von Beethoven zu Anerkennung zu verhelfen. Mit seiner Entschlossenheit und seinem Charisma schafft es Wagner, dass die Zahl der Proben erhöht wird. Und dies obgleich die finanziellen Möglichkeiten der Allgemeinen Musikgesellschaft in Zürich damals extrem begrenzt sind. Wagners Ziel ist es, ausgeglichenere und kohärentere Konzerte zu schaffen. Wagner zögert auch nicht, selbst die Einleitung zu schreiben und damit einen pädagogischen Aspekt zu verbinden. Seine neue, wagemutige Art und Weise des Dirigierens gefallen sowohl Publikum als auch Orchester. Wagner steht für eine große Treue zum Notentext, behält sich beim Dirigieren, insbesondere beim Tempo Freiheiten vor.

MVRW Ein Theater in ZürichDer Theoretiker Wagner, der sich der nicht zu leugnenden Qualitäten des Orchesters und der Künstler in Zürich bewusst ist, dem aber auch klar ist, dass es tiefgreifende Veränderungen braucht, um dieses kleine Schweizer Provinztheater auf das Niveau deutscher Einrichtungen zu heben, schreibt und schreibt und schreibt. So kommt es zu den Schriften Über die musikalische Direktion der Züricher Oper (1850) und zu Ein Theater in Zürich (1851). Wagner erläutert in diesem Werk die Reformvorschläge, die seiner Meinung nach zu Erfolg führen.

Da das Züricher Publikum von dem neuen künstlerischen Direktor ganz begeistert ist, bietet man Wagner endlich die Möglichkeit, eines seiner eigenen Werke zu dirigieren. Es handelt sich dabei um den Fliegenden Holländer, den der Komponist zwischen dem 25. April und dem 2. Mai 1852 nach entsprechenden Proben viermal dirigiert. Wagner macht sich endlich einen Namen, einen kleinen jedenfalls.

In der guten Schweizer Gesellschaft wird er nunmehr außerdem als eine Persönlichkeit gesehen, die es bei Abendessen, Bällen und Empfängen einzuladen gilt. Gelegenheiten, bei denen er besonders aufgeklärte Freunde kennenlernt, die ihn während seines Aufenthalts in Zürich moralisch und finanziell unterstützen, ihm Mut machen, ihn beraten…

MVRW WILLE ElizaSo trifft es sich schließlich, dass Wagner zu Beginn des Jahres 1852 die Wesendoncks kennenlernt: Otto, einen ehemaligen Seidenhändler, der es durch Geschäfte mit den Vereinigten Staaten zu einem großen Vermögen gebracht hat, schmückt sich mit allem, was gerade modern ist. (Ob er dadurch im kulturellen Leben der Stadt, dessen Kodizes er nicht besitzt, anerkannt werden möchte, sei dahingestellt…) Seine um 13 Jahre jüngere Ehefrau Mathilde wiederum besitzt eine bemerkenswerte künstlerische Ader. Sie ist von Natur aus eher zurückhaltend und reserviert, schreibt Gedichte und Romane. Später lernt Wagner auch die Eheleute François et Eliza Wille, beide Publizisten und Dichter, kennen, denen außerdem eine gewisse Art, Dinge ganz offen und frei auszusprechen, gemein ist, die Respekt einflößt. Und nicht zuletzt sind da auch noch die Freunde der ersten Stunde, die ebenfalls in Zürich Asyl gefunden haben: der getreue Georg Herwegh, immer noch ein Revolutionär, der sowohl in Frankreich als auch in Deutschland des Landes verbannt wurde; Gottfried Semper, dessen Position im Hinblick auf die Ereignisse in Dresden nie ganz klar war und der sich daher auch bedroht fühlt; sowie der treue Karl Ritter, der seinem Meister so treu ergeben ist, dass er sowohl zu seinem Vertrauten als auch zu seinem Sekretär wird und allerlei Dinge für ihn erledigt.

 

Die Natur als unerschöpflicher Quell an Inspiration
Schreiben des Librettos zum Ring sowie öffentliche Lesungen

mvrw-alpes-suissesSind der Meister und seine Anhänger nicht gerade dabei, über die Zukunft der Kunst und die Notwendigkeit einer Revolution zu sinnieren, deren Ziel das Abschaffen einer veralteten Gesellschaftsordnung ist, stehen Ausflüge in die Umgebung rund um Zürich auf dem Programm. Während es sehr wahrscheinlich ist, dass Wagner seine ersten Wanderziele noch von Einheimischen empfohlen werden, entdeckt er bald ganz von selbst Landschaften, die so prächtig sind, dass sie Sterblichen den allergrößten Respekt einflößen. Er lernt dabei auch Naturphänomene kennen, deren Existenz er als Städter bisher gar nicht kannte. Seine Expeditionen in die Schweizer Alpen und deren faszinierende Natur erscheinen dem Komponisten und Dramaturgen sehr bald eine gute Vorlage für sein Nibelungenepos zu sein, an dessen Libretti und Versen er voller Begeisterung arbeitet. Als Wagner von einem gewaltigen Sturm überrascht wird, der unerfahrenen Alpinisten ohne weiteres das Leben hätte kosten können, denkt er dabei nur an den ersten Akt der Walküre. Seinen Spaziergängen inmitten von grünen Tannenwäldern ist der mal beunruhigende, mal helle Wald zu verdanken, in denen sich die Aventüren des Siegfried abspielen. Als Wagner Zeuge des sog. Rigigespensts, einer Lichterscheinung wird, sieht Wagner darin natürlich nichts Anderes als einen von Donner hervorgerufenen Regenbogen, der dazu dienen wird, die Götter auf einer majestätischen Brücke zur Walhalla zu geleiten (Abschlussszene im Rheingold). Nie hat die Natur Wagner in ihrer Plötzlichkeit und auch in ihrer Grandiosität so inspiriert.

Beste Bedingungen also für den Komponisten, um zu der Energie zu gelangen, die nötig ist, um die vier Opern zu komponieren, aus denen der Ring des Nibelungen bestehen wird. Nachdem es im privaten Kreis seiner Freunde zu Lesungen gekommen ist, auf die diese voller Begeisterung reagiert haben, und ihm seine Zuhörer eine glanzvolle Zukunft vorhergesagt haben, erscheint Wagner das Projekt durchführbar und er lässt 50 Exemplare mit dem kompletten Text drucken.

baur-au-lac-vers-1850Um seine Verse einem größeren Publikum vorzustellen, hält Wagner ferner zwischen dem 16. und 19. Februar 1853 an vier aufeinanderfolgenden Abenden im prestigeträchtigen Hotel Baur-au-Lac Lesungen mit den vier Gedichten ab. Zur großen Überraschung des Komponisten und der ihm nah stehenden Personen wird das Interesse des Publikums jeden Abend ein Stückchen größer und die Zahl der Zuhörer nimmt stetig zu.

Das Ehepaar Wesendonck wiederum hört den leidenschaftlichen Versen des Komponisten mit besonders großem Interesse zu, wodurch es sowohl im Leben der Wesendonck als auch in dem Wagners zu gewaltigen Umwälzungen kommen wird.

 

Idylle bei den Wesendoncks

MVRW Otto_WesendonckAnfang 1852 lernt Richard Wagner Otto und Mathilde Wesendonck kennen. Bei Otto handelt es sich um einen reichen Seidenhändler, der in New York zu einem großen Vermögen gekommen ist. Otto Wesendonck liebt die Musik des deutschen Komponisten. Mathilde Wesendonck ist reservierter, hält mit ihrem Interesse für Wagners Werke aber nicht hinter dem Berg, was sie dem Komponisten in einem Briefwechsel zeigt, der bald nach der Begegnung Wagners mit dem Ehepaar beginnt. Schon am Ende des Frühjahrs, das auf die öffentliche Lesung der Verse des Rings des Nibelungen im Hotel Baur-au-Lac sowie auf die allerersten Züricher Wagnerfestspiele – nämlich drei Konzerte mit Auszügen aus Wagneropern am 18., 20. und 22. Mai – folgt, antwortet Richard Wagner auf Mathildes Briefe, indem er Klavierstücke komponiert, die ihr gewidmet sind (eine Polka in G-Dur, WWV84; eine Klaviersonate für das Album von Frau M. (athilde) W. (esendonck), WWV85).

Eigentlich das Mindeste, was der Komponist für die großzügigen Summen tun kann, die Otto Wesendonck bereits jetzt überweist. So hat Wesendonck sämtliche Gagen der Künstler der ersten Züricher Wagnerfestspiele bezahlt und damit bereits einen Grundstein für das zukünftige Werk seines Komponistenfreundes gelegt.

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mvrw-wesendonck-mathilde-205x300In den folgenden Jahren widmet Wagner Mathilde Wesendonck immer mehr Kompositionen, von denen manche sogar versteckte Botschaften enthalten. So schreibt Wagner in das Manuskript der Sonate folgenden Vers aus dem Dialog der Nornen (Prolog der Götterdämmerung): Wisst ihr, wie das wird? Es scheint dabei fast so, als wolle der Komponist die Frau, die ihn bewundert, zu einem gemeinsam geschriebenen – und gelebten (?) – Abenteuer verleiten.

Über die finanzielle Unterstützung, die ihm Otto Wesendonck zukommen lässt, kann sich Wagner nur freuen, zumal das gutsituierte Ehepaar Wesendonck seit 1851 ein harmonisches Leben in Zürich führt und in der guten Gesellschaft respektiert und geschätzt wird.

Der 38-jährige Otto Wesendonck hat sich bereits sehr früh aus dem Berufsleben zurückgezogen. Sein Leben möchte er nunmehr in einem angenehmen und friedvollen Rahmen genießen und dabei auch junge Künstler fördern, die ihm als zukünftige große Künstler angepriesen werden. (Sein eigener Kunstsinn ist nicht ausgeprägt genug, um dies selbst beurteilen zu können.)

Er begegnet so Wagner, der seines eigenen Landes verbannt wurde, der sowohl im politischen Bereich als auch in der Kunst revolutionäre Ideen hat und der bereits einige theoretische Schriften verfasst hat, über die man redet. Ein Komponist, der sich selbst als Vertreter der „Zukunftsmusik“ sieht und der es schafft, seine Zuhörer zu begeistern, indem er ihnen an vier verschiedenen Abenden insgesamt fast 15 Stunden lang leidenschaftliche Verse vorträgt. Bereits nach seiner ersten Begegnung mit Richard Wagner kann es sich das Ehepaar Wesendonck nicht mehr vorstellen, auf seinen Schützling verzichten zu müssen. Während Wagner mit Otto Wesendonck über die Zukunft der Kunst – ja sogar der Welt – diskutiert, sind die Gespräche zwischen Wagner und der schönen Mathilde um einiges gefühlvoller und feiner. Wagner und Mathilde verstehen sich fast schon ohne Worte. Damit beide verstehen, was sie für den jeweils anderen bedeuten können, sind nur noch ein paar Kompositionen nötig, die der Komponist der Ehefrau seines Mäzens widmet.

Wagner, der seit der Komposition von Lohengrin im Jahr 1849 keine einzige wirklich bedeutende Note mehr komponiert und sich stattdessen seinen theoretischen Schriften gewidmet hat, wird von einem neuen schöpferischen Elan erfasst. Nach einer Reise nach Italien, welche sein neuer Mäzen dem Komponisten großzügigerweise finanziert, damit er sich erholen und seine ständigen Schmerzen loswerden kann, fertigt er in Zürich in einem Zug den Kompositionsentwurf zu Rheingold an. Trotz Fieber und Erkältung bringt er die großen Linien des ersten Teils seines Rings des Nibelungen in weniger als neun Wochen zu Papier. Dank seiner theoretischen Überlegungen und Schriften zur Kunst findet er zu einem neuen musikalischen Ausdruck, der ihn zufriedenstellt, ihm aber auch Angst macht. So schreibt er seinem Freund Liszt am 15. Januar 1854: „Das Rheingold ist fertig – : aber auch ich bin fertig !!! –“ (…) „Glaub’mir, so ist noch nicht componirt worden : ich denke mir, meine Musik ist furchtbar : es ist ein pfuhl von Schrecknissen und Hoheiten!“

Während er mit der Komposition der Walküre beginnt, liest er Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung, was für ihn einer regelrechten Offenbarung gleichkommt. Er entschließt sich danach, statt einer bzw. zwei drei Opern zu schreiben: Die Walküre mit einem Wotan, der perfekten Inkarnation der Philosophie Schopenhauers, und auch die Oper Tristan und Isolde, deren Hauptpersonen Wagner so gestaltet, dass sie dazu bereit sind, ihre irdische Existenz einer Verbindung mit dem Universum zu opfern. Außerdem angeregt durch das Leben Buddhas, der den vom deutschen Philosophen geforderten Verzicht auf alles Irdische bestens verkörpert, ein neues Projekt – Die Sieger -, das Wagner im Verlauf seines jüngsten Lesestoffs entwirft und das ihn bis zum Schluss beschäftigt, obwohl es nie das Licht der Welt erblicken wird.

Obwohl Wagner auf eine Einladung der Old Philharmonic Society nach London reist, um dort im Januar 1855 eine achtteilige Konzertreihe zu dirigieren (s. Die drei Aufenthalte Richard Wagners in London), und er somit Zürich verlässt, nähert er sich immer mehr an Mathilde Wesendonck an, welche seine beste Verbündete zu sein und sowohl seine ganz persönlichen Hoffnungen als auch seine Ziele als Künstler zu verstehen scheint.  Zeitgleich erblicken unter der Feder des Komponisten Opern- und Musikprojekte das Licht, die die Erfüllung des Selbst durch eine Sublimation der Liebe preisen.

Sowohl Richard als auch Mathilde leben nur noch für die Entstehung dieses fantastischen Werks, das sowohl traditionellen Regeln als auch den „begrenzten“ Ansprüchen der klassischen Oper ein Ende setzt. Zwischen dem Komponisten und der schönen Mathilde Wesendonck kommt es immer häufiger zu einem Austausch, der jedoch gleichzeitig einiges komplizierter macht. Wer könnte die innerste Natur dieser nie dagewesenen künstlerischen Vorhaben, für die kulturelle und soziale Regeln und Konventionen nicht mehr gelten, besser verstehen als diese beiden Seelen? Durch den Kontakt zwischen dem Dichter und seiner Muse entsteht jedoch nicht nur Inspiration. Vielmehr kommt es auch zu einer verführerischen Anziehungskraft, die sehr schnell zur Gefahr werden kann. Handelt es sich anfangs noch um ein harmloses Spiel, erzeugt dieses doch bald eine gewisse Faszination und schließlich Leidenschaft.

Das Stadium, in dem Wagner für die Frau seines Freundes und großzügigen Mäzens auf die Schnelle kürzere Musikstücke komponiert, ist inzwischen vorbei. Jetzt geht es um etwas viel Größeres, für das wohl kaum jemand so empfänglich wäre wie Mathilde, der es außerdem gelingt, zwischen den Zeilen der Kompositionen zu lesen, die wie leidenschaftliche Liebeserklärungen klingen.

mvrw-walkyrie-premier-acte-manuscrit-avec-codesDer gesamte erste Akt der Walküre wird von einem Richard Wagner komponiert, den eine verbotene Liebe erfasst hat. Er enthält so jede Menge verschlüsselte Botschaften, die nur sein Komponist und dessen Muse verstehen können und die die Überschreitung einer Grenze erlauben, wie sie lediglich in der Musik möglich ist. Als Hunding z. B. damit droht, Siegmund zu töten, und er die Bühne verlässt, fügt Wagner über der Partitur „G. w. h. d. m. verl?“ („Geliebte, warum hast du mich verlassen?“) hinzu. Als die beiden Helden auf der Bühne ihr Glück zeigen, findet man über den Worten „Auf lach‘ ich in heiliger Lust“ „O. w. i. d. l.!“ („O wie ich dich liebe!“). Und als das in London fertiggestellte Manuskript zum ersten Akt am 30. April endlich in Reinschrift vorliegt, übergibt er das Original Mathilde mit den drei Buchstaben „G. S. M.“ („Gesegnet sei Mathilde!“), in denen er seine ganze Dankbarkeit zusammenfasst.

Tristan, einem weiteren Opernprojekt, in dem die Liebe verherrlicht wird, steht Wagner für den Moment etwas unschlüssig gegenüber. Wie es mit der Oper genau weitergehen soll, weiß er noch nicht. Ende 1855 wird das Originalgedicht zu einer langen Suche nach einem Ideal. Zunächst ist vorgesehen, dass Parsifal während seiner Suche nach dem Gral im letzten Akt einen sterbenden Tristan sowie eine Isolde vorfindet, die dabei ist, ihre menschliche Existenz aufzugeben, um sich mit dem Universum zu verbinden. Ende 1856 dagegen sieht der Autor Tristan eher als eine Oper italienischen Stils mit nur wenig Protagonisten, welche im Wesentlichen dazu da sei, schnell Geld zu verdienen. Im März 1857 drängt der Brasilianer Dr. Ernesto Ferreira-França Wagner mittels Briefen von Dresden aus dazu, eine Oper italienischen Stils zu komponieren, die zu Ehren des Kaisers Peter II. von Brasilien in Rio de Janeiro aufgeführt werden soll. Ob Wagner dafür wohl Tristan vorgesehen hat? Welcher Stoff würde sich dafür wohl besser eignen?

mvrw-villa-wesendonck-avec-asylDas  „Tristan-Projekt nimmt mit Otto Wesendonck jedoch eine ganz andere Richtung. Wesendonck hat in den Anhöhen von Zürich mit dem Bau einer stattlichen Villa im neoklassizistischen Stil begonnen. Als sein Schützling über seine eigene, laute Unterkunft im Zelltweg klagt, welche es ihm nicht erlaube, sich vollständig auf das Komponieren zu konzentrieren, schlägt Wesendonck Wagner vor, mit seiner Ehefrau Minna in ein kleines Haus zu ziehen, welches sich in der Nähe der zukünftigen Villa befindet. Wesendonck bietet an, die Kosten hierfür zu übernehmen. Als Wagner das Grundstück am Karfreitag des Jahres 1857 besucht, ist er überglücklich.

(Als er Cosima später Mein Leben diktiert, erklärt er, dass er meinte, an diesem gesegneten Tag die Glocken gehört zu haben, die ihn zu Parsifal inspirierten. Aus dem Tagebuch von Cosima weiß man jedoch, dass sich Wagner beim Diktieren dieser Zeilen im Datum geirrt haben muss. So habe er Cosima gegenüber am 22. April 1879 anvertraut, dass es sich nicht um einen Karfreitag gehandelt habe, dass in der Natur aber eine derart angenehme Stimmung vorhanden gewesen sei, dass es sich um den Karfreitag hätte handeln können.)

Gleich nach Beendigung der Bauarbeiten zieht das Ehepaar Wagner im „Asyl“, wie der Komponist seine neue Unterkunft nennt, die so viel Sorglosigkeit verspricht, ideale Bedingungen für das Komponieren bietet und sich außerdem so nah bei seinem Mäzen sowie dessen Gattin, der verbotenen Liebe Wagners, befindet, ein.

mvrw-asyl-wesendonckAm 22. August ziehen schließlich auch die Wesendoncks in ihre Villa, einen regelrechten Palast über dem Züricher See, ein. Eine Wohnstätte, die für Otto Wesendonck sehr schnell zu einem Ort werden soll, an dem die gute Züricher Gesellschaft zu Konzerten und Abenden zusammenkommt und wo die hohe Kultur gefeiert wird. Der ehemalige Seidenhändler kauft eine ganze Bibliothek mit den seltensten und wertvollsten Werken auf, die für eine Kultur stehen, die er – Otto Wesendonck – überaus gut kennen will. Bedenkt man außerdem, dass der ehemalige Kaufmann den Komponisten der „Zukunftsmusik“ am Ende seines Gartens beherbergt, wagt es sicher niemand, am guten Geschmack von Wesendonck zu zweifeln. (Am Ende der vielen Jahre, die der aufgeklärte Mäzen damit verbringt, unschätzbare Kunstwerke aufzukaufen, liegt eine Sammlung vor, die als eine der bemerkenswertesten Privatsammlungen überhaupt gilt.)

Als Wagner im „Asyl“ wohnt, bricht er plötzlich die Arbeit an der Komposition des Rings des Nibelungen beim zweiten Akt des Siegfried ab. Mathilde ist so nah, dass er sich dazu entschließt, sich jetzt ganz der Liebe zwischen… Tristan und Isolde zu widmen. Inspiriert durch seine Liebe zur schönen Mathilde, die sich in seiner unmittelbaren Nähe befindet, arbeitet der Komponist fieberhaft an seinem ersten Manuskript zu Tristan. Die entsprechenden Seiten übergibt er seiner Muse, welche dieser Beweis an Zuneigung mehr als berührt. Nachdem sie die ersten Verse ihres Komponistenfreundes gelesen hat, greift die schöne Mathilde selbst zur Feder und verfasst fünf Gedichte, die Wagner als Skizzen zu Tristan und Isolde vertonen wird. (Es handelt sich hierbei um die sog. Wesendonck-Lieder.) Eine Ausnahme im Werk Richard Wagners, der nur sehr selten die Texte anderer Autoren vertont hat, und ein Zeichen für die perfekte Symbiose zwischen dem Komponisten und seiner Muse sowie für die Achtung, die er der jungen Frau entgegenbringt. Nach der Vertonung der fünf Gedichte von Mathilde, arbeitet Wagner mit Leidenschaft an dem Entwurf der Komposition des ersten Akts von Tristan. Am 31. Dezember 1857 übergibt er Mathilde seine Notenblätter mit folgender Widmung, die an der Art seiner Gefühle keine Zweifel lässt: „Hochbeglückt, Schmerzentrückt, Frei und rein, Ewig Dein – Was sie sich klagten, Und versagten,Tristan und Isolde, In keuscher Töne Golde, Ihr Weinen und ihr Küssen, Leg‘ ich zu Deinen Füßen, Daß sie den Engel loben, Der mich so hoch erhoben! Am Silvester 1857. R.W.“

mvrw-villa-wesendonck-11-300x225Bei diesen Ergüssen und Kreationen können Unstimmigkeiten in den Ehen Mathildes und Richards nicht ausbleiben. Während Otto ganz mit seinen Finanzgeschäften, seinen neuen Akquisitionen und der Organisation des mondänen Lebens, das in der Villa Einzug halten soll, beschäftigt ist, versteht die von ihrem Mann völlig vernachlässigte Minna ziemlich schnell, was vor sich geht. Richard beschäftigt sich nur noch mit der Komposition seines Tristan und ist von der Liebe zu seiner Muse erfüllt, während das Herz seiner Frau immer mehr schmerzt und sie sich immer mehr mit der Opiumtinktur zu beruhigen sucht, die ihr verschrieben wurde. Zwischen dem „Asyl“ und der Villa Wesendonck kommt es nämlich inzwischen zu einer nicht enden wollenden Wanderung von Dienstboten, die mal leidenschaftliche Verse, mal Blätter mit ebenso leidenschaftlichen Note und sogar Briefe überbringen.

MVRW-Lettre-de-Richard-a-Mathilde-sur-Tristan-300x300Am 7. April 1858 schließlich fängt Minna einen Brief ihres Mannes an Mathilde ab. Er enthält folgende kompromittierenden Sätze: „Sei mir gut, das Wetter scheint mild, heut‘ komme ich wieder in Deinen Garten, sobald ich Dich sehe. Ich hoffe Dich einen Augenblick ungestört zu finden. Nun meine ganze Seele zum Morgengruß! R.W.“
Für Minna Wagner ist das Maß damit voll. Auch wenn sie die „Trennung“ von Richard offiziell akzeptiert hat, kann sie sich nicht mit einer Scheidung anfreunden. Als Minna eine zu große Dosis ihres Medikaments einnimmt, kommt es zum Skandal. Sie begibt sich in die Villa Wesendonck und verlangt dort nach einer Erklärung. Während Mathilde von einem kontinuierlichen Weinkrampf geplagt wird, reagiert Otto nobel und mit Resignation. Das Ehepaar Wagner versucht dem Ganzen mit einer mehrtägigen Erholungskur zu entfliehen. Bei ihrer Rückkehr in Zürich ist die Situation im „Asyl“ jedoch kaum auszuhalten.

Otto Wesendonck, der weder seiner Frau noch Wagner Vorhaltungen macht, fordert den Komponisten auf, das „Asyl“ zu verlassen. Die Wagners zögern nicht.  Minna räumt das Haus leer und verlässt ihren Mann. Sie wird ihn erst ein paar Jahre später bei einem letzten Versöhnungsversuch wiedersehen. Auch dieser scheitert jedoch im Jahr 1861 in Paris. Das Paar trennt sich danach endgültig.

Mit gebrochenem Herzen, Tränen in den Augen, gepackten Koffern und seinen Notenblättern zu Tristan in den Händen verlässt Wagner nach neun Jahren Zürich und sein so sehr geliebtes „Asyl“ und macht sich nach Venedig auf. Zuvor verabschiedet und grüßt er Mathilde am Tag vor seiner Abreise am 17. August 1858 ein letztes Mal.

NC/CPL/SB

 

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